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Die Bio-Botschafterin aus der Leopoldstadt

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Die Bio-Botschafterin aus der Leopoldstadt

Text: Martha Miklin
Fotos: Walter Oberbramberger

„Hier gibt’s alles nach Maß und Ziel“, sagt der Slogan von Lunzers Maß-Greißlerei. In ihrem Laden in der Nähe des Wiener Praters verkauft Andrea Lunzer fein sortierte Bio-Lebensmittel nach Maß – und ohne Verpackung. Ein radikales Konzept aus der Vergangenheit, das den Lebensmittelhandel revolutionieren könnte.

Das Motto der diesjährigen Expo in Mailand „Feeding the World. Energy for Life.“ spricht drei Themen an, die Andrea Lunzers Maß-Greißlerei in den Genen hat: Ausreichend und gesunde Ernährung für alle, ohne die Erde auszubeuten. Wobei „ausreichend“ hier als „nicht zu viel“ interpretiert werden muss, also: gerade richtig. Gerade so viel, dass nichts davon im Müll landet. Jährlich werden weltweit 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel weggeworfen – eine Tatsache, über die Andrea Lunzer wohl nur den Kopf schütteln kann. Denn sie weiß, dass es auch anders geht.

Das „Zero Waste“-Prinzip

Seit etwas mehr als einem Jahr betreibt die Burgenländerin ihre Maß-Greißlerei im zweiten Wiener Gemeindebezirk – mit großem Erfolg und viel guter Resonanz, auch eine Expansion würde sie nicht ausschließen. Mit dem verpackungslosen „Nur so viel wie ich brauche“-Konzept hat sie den Nerv der Zeit getroffen, der dort ansetzt, wo es wehtut: bei dem schlechten Gewissen, das aufkommt, wenn man feststellt wie viel Müll man eigentlich produziert und dem Schmerz, Lebensmittel wegzuwerfen. Aber sie hat auch einen anderen Nerv getroffen, der zeitgeistiger nicht sein kann: Die Auflehnung gegen das Diktat des Handels, wie viel man wovon zu kaufen hat, sowie das noch immer steigende Bedürfnis nach Bio-Nahrung. Der Laden in ihrem Grätzel, der Leopoldstadt, zieht auch deshalb ein heterogenes Publikum an – keineswegs nur LOHAS („Lifestyle of Health and Sustainability“) mit überdurchschnittlichem Einkommen, denn als elitär sieht Andrea Lunzer ihren Laden in der Heinestraße ganz und gar nicht. Den Großteil der Klientel bilden zwar sehr wohl nachhaltig denkende und Bio Food-affine 25- bis 40-Jährige, aber auch viele ältere Menschen kommen mit selbstmitgebrachten Gläsern. Es ist die ältere Generation, der „der Lebensmittelabfall von hinten bis vorne weh tut, nicht nur im Geldbörserl weil die Pension klein ist sondern einfach weil schlechte Erinnerungen hochkommen,“ so Andrea Lunzer. Die SeniorInnen fühlen sich außerdem vom Greißler-Konzept abgeholt, die Jüngeren schätzen das „Grätzel-Feeling“ und die Möglichkeit der ungezwungenen Kommunikation.

 

Lost in translation? Von wegen.

Andrea Lunzer hat die Greißlerei von damals in die Gegenwart übersetzt. Ihr Laden ist schick, hip und vor allem gut durchdacht. „Die Kassa ist viel mehr als eine Kassa. Es ist immer eine Person da, ein Gesicht, das den Besucher empfängt und bei Fragen sofort eingreifen kann. Und die Leute fragen viel mehr – auch weil es keine Verpackung zum Durchlesen gibt“. Das Prinzip ist einfach: Nimm dein eigenes Gefäß mit und fülle es mit dem, was du brauchst oder greif zum Papiersackerl. Das Gewicht des Gefäßes wird dann abgezogen. Glasbehälter können auch direkt im Laden gekauft und bald auch ausgeliehen werden. Die Ware ist nackt, außer bei Produkten die es aus hygienischen Gründen nicht sein können wie z.B. Milchprodukte oder Säfte. Anfangs verkaufte Andrea Lunzer ausschließlich regionale Produkte, jetzt hat sie ihr Sortiment aus guten Gründen erweitert: „Wir bieten jetzt auch Zitrusfrüchte an, weil die Leute sagen: Ohne Zitrone kann ich nicht kochen.“ Dasselbe gilt für Gewürze, denn hierzulande „ist es beim Pfeffer vorbei“. Schließlich sollte es in Lunzers Maß-Greißlerei alles geben, was man zum guten Kochen braucht.

„Du, Walter, die Heidrun hat schon den Wein gekauft!“

Im Laden wird viel geredet, erklärt, debattiert. Lunzers Greißlerei ist ein Ort der Begegnung und hat auch einen Gastro-Bereich, in dem man Kaffee trinken und eine Kleinigkeit essen kann. Es findet ein reger Austausch mit den KundInnen statt, und der mache ihr bei der Arbeit auch am meisten Spaß, so Lunzer. Vielleicht auch der schönen Kindheitserinnerungen wegen:„Als Kind bin ich mit der Milchkanne zum Greißler gegangen. Das war auch eine bewusste Entscheidung gegen den Supermarkt, wo alles anonym abläuft. Zu mir kommen heute Leute aus dem Haus, die ich selber kenne: ‚Du, Walter, die Heidrun hat schon den Wein gekauft, den brauchst nicht mehr besorgen.’ Das genießen alle sehr.“ Beratung ist Teil des Programms, oft gehe es auch darüber hinaus. Andrea Lunzer sieht Bewusstseinsbildung als Teil ihrer Arbeit. „Viele Leute fragen uns nach Chia-Samen oder auch Goji-Beeren. Aber davon gibt es auch österreichische Varianten: Die Wachauer Kornelkirsche hat mindestens genau so viel Vitamin C wie die Goji-Beere und ist dazu auch noch frisch. Und Hanfsamen können auch nicht weniger als Chia-Samen. Wir schauen, dass wir nicht auf jeden blöden Trend aufspringen, weil Nachhaltigkeit bedeutet auch, Dinge zu hinterfragen: Brauche ich das? Was ist da drinnen? Habe ich das nicht vielleicht vor meiner Haustüre?“

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„Das wäre in einem Supermarkt auch möglich“

Vor der Eröffnung der Maß-Greißlerei war Andrea Lunzer jahrelang für eine große österreichische Biomarke im Bereich Verpackung tätig. Die Nachfrage von Kundenseite nach nachhaltigeren Lösungen wuchs („Die Produkte sind super, aber warum sind sie eingeschweißt in Plastik?“), und dieses neue Bewusstsein war vermutlich auch dafür verantwortlich, dass langsam eine Idee im Lunzer-Kopf zu keimen begann, die jetzt als schickes, hippes Gassenlokal den 2.Wiener Gemeindebezirk ein bisschen schöner und besser macht. In Kombination mit der Tatsache, dass es sie „wahnsinnig machte, nur am Schreibtisch zu sitzen“ entstand dann etwas,das ein Konzern nie gewagt hätte. Der Weg dorthin war gut geplant, sie ließ sich von einem ähnlichen Laden in East London inspirieren und holte sich Unterstützung von einer Service-Designerin, die mit ihr nach den Regeln des „Design Thinking“ vorging, einem von Designern geliehenen Ansatz, bei dem die Bedürfnisse und Motivationen von Menschen im Zentrum stehen und das Konzept daraufhin geprüft und verfeinert wird. Dennoch fühlte sich die jetzt stolze Ladenbesitzerin in dieser Entwicklungsphase unsicher, mehr wie ein Kind, das zuhause im Kinderzimmer mit dem Krämerladen spielt. Aber das Konzept ging auf. Und kommt an. Was es aber auch tut – und was es geradezu radikal macht, wenn auch auf eine subtile Art und Weise: Es hinterfragt eine ganze Industrie, deren Image ohnehin angeknackst ist. „Ich sehe hier, jetzt, nachdem wir 14 Monate offen haben, dass das eigentlich in einem Supermarkt auch möglich wäre. Bei vielen Produkten ist die Verpackung nur da, damit die Ware eine Marke transportieren kann.“ Lunzers Maß-Greißlerei ist zwar nur ein kleiner, hipper Laden mitten in Wien. Aber die dahinter stehende Ideologie macht ihn zu etwas ganz Großem, das die Lebensmittelindustrie zum Guten verändern könnte – und hoffentlich auch wird.

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